Überhasteter EWU-Beitritt kann sehr teuer werden


Börsen-Zeitung, 02.07.2003, Nummer 124, Seite 7

Karlheinz Ruckriegel und Franz Seitz *)

Gastbeitrag

Knapp ein Jahr vor ihrer Aufnahme in die EU am 1. Mai 2004 sind die zehn Beitrittsländer bereits bestrebt, möglichst frühzeitig in die Europäische Währungsunion (EWU) zu gelangen. Als Vorteile versprechen sie sich neben der symbolträchtigen Euro-Einführung und dem endgültigen Ausschalten von Wechselkurs-risiken niedrigere Zinsen und - insbesondere vor dem Hintergrund der starken Handelsverflechtung mit der EU - schlicht auch eine Einsparung von Transaktionskosten. Auf der Sollseite stehen allerdings der Verzicht auf eine eigenständige Geld- und Wechselkurspolitik und die Einschränkung des fiskalpolitischen Spielraums. Dies kann im Zuge des wirtschaftlichen Aufholprozesses in den Beitrittsländern die Gefahr eines dauerhaften Verlusts an internationaler Wettbewerbsfähigkeit heraufbeschwören und zu erheblichen Risiken für den Fortgang des realen Aufholprozesses führen.

Verstärkter Lohndruck
In den nächsten Jahren dürften die Inflationsraten in den Beitrittsländern strukturell bedingt deutlich über dem Durchschnitt im bisherigen Euroraum liegen. Zum einen wird sich der Transformationsprozess in Richtung Marktwirtschaft verstärken, was eine weitere Liberalisierung administrierter Preise sowie eine Erhöhung indirekter Steuern zugunsten einer Senkung direkter Steuern zur Folge haben wird. Zum anderen ist der so genannte Balassa-Samuelson-Effekt ins Kalkül zu ziehen. Ausgangspunkt ist hier die Beobachtung, dass bei nicht handelbaren Gütern (im Wesentlichen Dienstleistungen und Wohnungen) in Abhängigkeit vom Stand der wirtschaftlichen Entwicklung die Preise von Land zu Land unterschiedlich sind. In wirtschaftlich entwickelten Ländern sind die Preise für nicht handelbare Güter tendenziell höher. Der hohe Lebensstandard beruht dabei auf einem durch den internationalen Wettbewerb ausgelösten höheren Produktivitätsniveau im Sektor der handelbaren Güter (vor allem verarbeitendes Gewerbe). Bei integrierten nationalen Arbeitsmärkten führt ein dadurch hohes Lohnniveau im Sektor der handelbaren Güter aber auch zu einem Lohndruck im Sektor der nicht handelbaren Güter, da ansonsten die Arbeitskräfte abwandern würden und ein zu hoher Lohnabstand mit Fairness- bzw. Gerechtigkeitsvorstellungen kollidieren würde.

Inflation durch Aufholen
Betrachtet man nun Länder mit unterschiedlichem Entwicklungsstand, so kommt es bei einer Angleichung des Lebensstandards - ein Ziel, welches mit Hilfe verschiedenster Maßnahmen innerhalb der EU verfolgt wird - zu folgendem Reaktionsmuster: Handelsliberalisierung, steigender Wettbewerbsdruck, Know-how-Transfer über Direktinvestitionen sowie öffentliche Transferleistungen (die Zahlungen der EU an die Neumitglieder können bis zu 4 % des BIP für ein Land ausmachen) führen in einem Land mit Produktivitätsrückstand im Sektor der handelbaren Güter zu rasch steigender Produktivität. Da im Sektor der nicht handelbaren Güter der Produktivitätsfortschritt aber gering ist, führen dort Lohnerhöhungen zu Preiserhöhungen. Im weiteren Verlauf ergibt sich eine Angleichung der Produktivitätsniveaus bei handelbaren Gütern und der Preise für nicht handelbare Güter. Durch den starken Anstieg der Preise nicht handelbarer Güter weisen die weniger entwickelten Länder während des Aufholprozesses folglich auch eine höhere Inflationsrate auf. Dieser Effekt ist dabei umso stärker, je größer der Anteil der nicht handelbaren Güter ist.

Preissteigerungsdifferenzen
Gemessen am BIP pro Kopf besteht in allen Beitrittsländern ein mehr oder minder großer Rückstand zum EU-Durchschnitt und damit entsprechendes Potenzial dafür, dass der Balassa-Samuelson-Effekt wirksam werden kann. Schon für die bestehenden EWU-Länder werden die dadurch ausgelösten Inflationsunterschiede auf Größenordnungen bis zu 1 Prozentpunkt geschätzt. Für die Beitrittsländer, die sich in den nächsten Jahren in einem massiven realwirtschaftlichen Aufholprozess befinden dürften, wird zweifelsohne der Balassa-Samuelson-Effekt-bedingte Inflationsaufschlag deutlich darüber liegen. Empirische Untersuchungen zum Balassa-Samuelson-Effekt stehen allerdings vor dem Problem der schlechten Qualität der Dienstleistungs- und Produktivitätsstatistiken. Dies gilt besonders für die Lage in den Beitrittsländern.
Fallen aber nach Beitritt zur EWU die Möglichkeiten einer eigenständigen Geldpolitik weg, d.h. haben es die jeweiligen Länder nicht mehr in der Hand, Zweitrunden-Effekte infolge notwendiger Reformschritte oder des Balassa-Samuelson-Effekts geldpolitisch unter Kontrolle zu halten, dürften die Inflationsunterschiede noch verstärkt werden. Zum Teil könnte diesen Tendenzen allerdings durch eine zurückhaltende Fiskalpolitik, eine Intensivierung des Wettbewerbs im Sektor der nicht handelbaren Güter sowie eine Flexibilisierung der Arbeitsmärkte (differenzierte Lohnpolitik) entgegengewirkt werden. Zwar beeinträchtigen Preissteigerungen bei nicht handelbaren Gütern nicht unmittelbar die internationale Wettbewerbsfähigkeit eines Landes. Jedoch haben sie - über Substitutionsprozesse und da der tertiäre Sektor Vorleistungen für die Industrieproduktion erbringt - mittelbar Einfluss.
Ein überhasteter Beitritt zur Währungsunion macht sich daher zunächst primär in den Beitrittsländern selbst nachteilig bemerkbar, die einen verfrühten Beitritt zur Währungsunion mit dauerhaften Wettbewerbsnachteilen und entsprechenden Wachstumseinbußen "bezahlen" müssen.

Reale Konvergenz prüfen
Um die Probleme, die durch einen zu frühen Beitritt der aufholenden Volkswirtschaften in die EWU entstehen können, zu vermeiden, muss deshalb Fragen der realen Konvergenz, d.h. einer Angleichung der realwirtschaftlichen Strukturen in den Beitrittsländern an den EU- Standard, verstärkt Beachtung geschenkt werden. Reale Konvergenz ist wichtig, um die Dauerhaftigkeit der nominalen Konvergenzkriterien des Maastricht-Vertrags zu garantieren. Dies leuchtet unmittelbar ein, da bei hinreichender realer Konvergenz strukturelle Inflationsunterschiede und damit verbunden höhere Inflationsraten und Zinssätze sowie die Notwendigkeit einer Abwertung zum Ausgleich einer Balassa-Samuelson-Effekt-bedingten Verschlechterung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit entfallen.
Ein Beitritt zur Währungsunion sollte daher im Interesse der Beitrittskandidaten erst bei hinreichender realer Konvergenz erfolgen. Laut EU-Vertrag sollte bei der Konvergenzprüfung neben den Verbraucher-preisen auch die Entwicklung anderer Preisindizes berücksichtigt werden. Hier wäre nach obigen Ausführungen vor allem an die Preise nicht handelbarer Güter zu denken, etwa an Immobilienpreise und Preise für Dienstleistungen. Ein wichtiger Indikator für die realwirtschaftliche Konvergenz ist zudem die Angleichung der Pro-Kopf- Einkommen in den Beitrittsländern an den EU-Durchschnitt. Gemessen daran bedarf es bei den meisten Beitrittsländern noch eines längeren Aufholprozesses. Strukturelle Reformen, etwa im Bereich des Banken- und Finanzsektors in Richtung auf einen hohen Grad an Finanzinter-mediation, liquide Kapitalmärkte, eine ausreichende Eigenkapitalbasis der Banken, eine funktionierende Banken- und Wertpapieraufsicht und solide Zahlungssysteme, die bereits in den Kopenhagener Kriterien zum EU-Beitritt festgeschrieben wurden, sind hier eine notwendige Voraussetzung, um den realen Konvergenzprozess weiter voranzubringen.

*) Dr. Franz Seitz ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Fachhochschule Amberg-Weiden; Dr. Karlheinz Ruckriegel ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Georg-Simon-Ohm-Fachhochschule Nürnberg.